Tanik – Flucht nach Deutschland

von Svenja Förstel und Lilly Grewe aus der Klasse 6 der Heinrich-Heine-Schule Karlshagen und Ilse Behl

Ich wurde aus dem Schlaf gerissen. Meine Mutter zerrte mich aus dem Bett. In ihren Augen konnte ich kalte Angst erkennen. Sie zerrte mich, meinen Arm fest im Griff, nach draußen. Meine kleine Schwester Sevgi und mein großer Bruder Borak standen vor der Haustür. Erst jetzt sah ich, was passiert war. Das Haus an der Straßenecke brannte. Ich schaute zu meiner Mutter hin. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich wusste auch warum. Letztes Jahr starb mein Vater in einem Krieg. Nun fing ich auch an zu weinen, doch lange konnten wir nicht trauern, denn plötzlich explodierte das brennende Haus. Eine riesige Druckwelle, die von der Explosion  ausgelöst worden war,  brachte uns zum Fallen. Wir fielen nach hinten und rollten seitwärts ein Stück die Straße entlang. Als die Druckwelle nachließ und wir aufstanden, befanden wir uns mit dem Rücken zu unserem Haus. Wir fielen auf die Knie und kauerten uns schützend, mit den Händen vor dem Gesicht, hin. Als die Druckwelle weiter nachließ, standen wir erschüttert auf: unser Haus war komplett zerstört. Unsere Mutter sprach leise zu uns: „Meine Kinder. Es ist wieder Krieg. Wir werden flüchten müssen. Stellt euch auf das Schlimmste ein. Die Gegner werden uns keine Gnade geben!“ Ich schaute zu ihr hoch und Tränen kullerten meine Wange herunter. „,Nein, nein, nein! Wieso, Wieso?“. Diese Fragen spukten uns allen in den Köpfen herum.
Unsere Mutter nahm uns bei den Händen und rannte mit uns aus dem Dorf, das gestern noch so friedlich dagelegen hatte. Nun war es belagert von islamischen Soldaten, die sich selbst „Islamischer Staat“ nennen. Allein schon der Gedanke daran, meine Heimat zu verlassen, umhüllte mein Herz mit Trauer. Wir rannten und rannten, bis wir in die Wüste kamen. Mutter,  Sevgi, Borak und ich waren schon total erschöpft. Zum Glück entdeckte unsere Mutter eine alte, verlassene Hütte. Müde und niedergeschlagen von der hektischen, angstvollen und panischen Flucht, gingen wir hinein und legten uns auf den kalten, grauen Boden. Sofort schliefen wir ein, nachdem unsere Mutter uns ein Gute-Nacht-Küsschen gegeben hatte. Wir konnten nur hoffen, dass der nächste Tag friedlicher und ruhiger starten würde.

Nachts auf dem kalten Boden war es nicht auszuhalten, obwohl unsere Mutter jedem von uns ein zusammengerolltes Kleidungsstück unter den Kopf geschoben und mit einer dünnen alten Matte zugedeckt hatte. Es lag ja allerlei Gerümpel herum in der Hütte. Gute Mutter – sie lehnte mit geschlossenen Augen zusammengesunken an der löchrigen Außenwand. Bestimmt hatte sie keinen Schlaf gefunden. Ich wagte nicht zu fragen, hockte mich aber neben sie und drückte mich vorsichtig an ihre Schulter. Sie hob ihren Arm, legte ihn um meinen Hals und flüsterte: „Tanik, mein Guter, mein Kind, wir müssen ab jetzt zusammenhalten wie noch nie. Steh bitte auf und lauf auf die Piste, schau nach, ob du jemanden siehst, wir müssen so schnell es geht ans Meer kommen. Am besten gemeinsam mit anderen. Da gibt es Schiffe, die nach Europa fahren. Gelobt sei Allah habe ich schon seit Tagen unser Geld unter dem Hemd versteckt. Essen und Trinken gibt es vielleicht dort zu kaufen. Wo das sein wird, weiß ich nicht zu sagen. Schau nicht zurück auf unser Dorf. Du wirst nur Trümmer sehen!“

Sie rückte sich zurecht, als wollte sie aufstehen. Ich half ihr hoch. Mama umarmte mich und seufzte schwer: „Geh, mein Kind, aber sei in einer halben Stunde zurück, zähle bei dir selbst, damit du die Zeit zu messen lernst. Ich wecke die anderen. Oh, die Sonne sticht schon!“ Ich lief den Weg, von dem wir abgebogen waren, hinauf bis zur Piste. Tatsächlich sah ich schwarz verhüllte Gestalten vom Dorf auf mich zukommen. Einige schleppten Sachen auf dem Rücken. Mein Güte ja. Jetzt konnte ich begreifen, dass Krieg herrschte. Während ich so stand, bemerkte ich mein eigenes Geschrei, das mir ohne mein Zutun aus dem Mund gefahren war:
„Mama, Mama, komm!“
Sie kam schon. Borak, und Sevgi, die Borak entschlossen an der Hand hinter sich her schleifte; alle
waren noch im Halbschlaf. Jetzt zu weinen und zu kreischen vor Kummer, das durfte  ich mir jetzt nicht erlauben. Vielleicht schafften wir den Weg ans Meer. Die dunkel gekleidete Gruppe mit hellen Tüchern um den Kopf – das waren die Demirels aus unserem Dorf und ein Unbekannter, der einen ziemlich langen Stock in der Hand trug, einen Hütestock wie ich erkannte.

Nach genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es ein älterer Herr war, der sich mit Mühe und Not auf den Stock stützte. Ich drehte mich um und rief meiner Familie zu: „Alles in Ordnung! Kommt her, dahinten  ist das Meer und weit und breit keine Islamisten zu sehen. Nur ein alter Mann und die Demirels.“ „Die Demirels! Leron, Leron!“, rief Borak und rannte die Piste hinunter zu seinem Freund. Vor einem Jahr waren die Demirels aus unserem Dorf gezogen. Damals waren Borak und Leron die besten Freunde gewesen. Doch plötzlich sah ich, dass  Borak steif vor Leron stehen blieb  und ihm dann mit offenem Mund hinterher sah, weil er einfach stumm weiterging. Ich rannte zu ihm.
„Borak was ist denn los? Ist was passiert? Warum unterhaltet ihr euch nicht? Borak, Borak!“, ich packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn kräftig. „Tanik, er, er kann sich nicht mehr an uns erinnern! Er kann sich nicht mehr an mich erinnern!“ Ich ließ ihn los. Fassungslos sah ich ihn an. Dann rannte Borak wieder zu Mutter und Sevgi. Traurig sah ich den Demirels nach. Konnte es wirklich sein, dass sich Leron nicht mehr an uns erinnerte? Dann drehte auch ich mich um und lief zu meiner Familie zurück. Als ich vor Borak stand, sah ich anfänglich Tränen in seinen Augen. Der Verlust seines alten, besten Freundes schien ihm nahe zu gehen. Ich boxte ihn sanft auf die Schulter. „Hey keine Sorge. Ich, Tanik, dein kleiner Bruder, schwöre dir, immer für dich da zu sein. Und ich bin mir sicher, dass die anderen das auch tun werden“, sagte ich ihm und lächelte ihn an. Matt lächelte er zurück.

„Kommt Kinder! Wir müssen los, um das letzte Schiff nach Griechenland zu bekommen! Na kommt!“ Mutter nahm Sevgi an die Hand und zusammen gingen wir zum Hafen, wo das Boot Costira ankerte. Ich, Borak, Sevgi und Mutter stiegen zuerst ein. Der Kapitän bot uns einen Fünfsitzer an. Nach einer Viertelstunde sagte ein Lautsprecher zu uns und den Menschenmassen: „Liebe Flüchtlinge, hier spricht der Kapitän. Ich bitte Sie, sich zu setzen. Wir legen ab. In ca. fünf Stunden und 45 Minuten werden wir in Athen anlegen und dort einen Zwischen-Stopp haben, bevor wir nach Bari fahren. Von dort aus bringt Sie ein Zug nach Deutschland. Ich wünsche Ihnen eine Gute Reise. Die Betten sind ein Stockwerk über Ihnen. Falls Sie Müdigkeit verspüren, können Sie jederzeit hochgehen. Ihnen einen schönen Tag noch.“ Ich gähnte und zupfte Mutter am Ärmel. “Was ist denn, Tanik?“, fragte sie  „Ich bin müde, möchte zu Bett gehen.“ Mutter nickte und ich stieg die Treppen hinauf.

Alles schien nun gut zu sein. Wir waren anscheinend aus der Gefahrenzone heraus.: Syrien und Angst waren vorbei. Übermütig winkte ich dem Strand zu, der nun dunkel dalag. Hier in unserer Klimazone wird es abends im Handumdrehen dunkel. Auf diese Dunkelheit hofften wir. Eigentlich aber war alles nur Hoffnung. Ein Hirngespinst, an das die Menschen gern glauben. Ich konnte mehr wissen, als die anderen, selbst Borak als der älteste von uns, hatte es nie richtig ausgehalten beim Flüstern der alten Leute. Es waren sagenhafte Geschichten, die sie sich eher heimlich erzählten. Ja, das Mittelmeer. Schon zu Mohammeds Zeiten, Allah hab ihn selig, kamen nur die wenigsten Kaufleute unbeschadet davon. Man nannte diese Leute „Abenteurer“. Aber ich hatte mich öfter zu ihnen gesetzt bis sie mich verscheuchten: “Geh, Sohn“, meinten sie, du sollst dich nicht sorgen, sondern glauben an das Glück!“ Manchmal versteckte ich mich hinter einem Vorhang und lauschte. Ich weiß auch besser als Borak, dass man die Alten ehren soll. Er aber ist ein Hitzpaket. In meinem Hinterkopf arbeitete und bohrte damals eine ziemlich schlimme Angst. Wann würden wir diese Reise bezahlen müssen? Wirklich mit Geld bezahlen, das meine Mutter vielleicht gar nicht aufbringen konnte und bezahlen mit einer dieser schrecklichen Gefahren, vielleicht mit dem Kentern des Schiffes und anderen Schrecken. Noch hoffte ich. Wir richteten uns ein so gut es ging. Richtig hinlegen konnten wir uns nicht, das war klar. Sevgi lehnte an Mamas Knie am unteren Teil ihrer Unterlage. Eigentlich war es gut, dass wir eine Schwester hatten. Aber mit den Mädchen war es immer und ist es ganz anders, als mit Jungen. Sevgi bedeutet lieben. Sind die Frauen nur für sowas da, das zwischen Männern und Frauen den Unterschied macht?. Ich spürte eine Wärmewelle tief im Körper. Was man doch alles lernen und wissen musste! Aber das schlimmste: Warum nahm dieser Kapitän derartig viele Menschen mit, sodass man um die Sicherheit des eher kleinen Schiffes schon bei Windstille Sorge haben musste, dass es kentern könnte?
Jetzt rief jemand auf der Bugseite.“Sieh mal den Berg da drüben! Fahren wir falsch?“ Sofort bahnten sich viel zu viele Menschen den Weg durch die ruhenden Körper auf die andere Seite. Das Schiff begann zu schwanken. Einige Kinder schrien auf.
Nach etwa einer Stunde kam der Kapitän mit einer Geldtasche in der Hand, um den Fahrpreis zu kassieren. Was er verlangte, verstand ich nicht genau, aber unsere Mutter schüttelte traurig den Kopf.
„Wieviel kannst du zahlen? Hier gelten andere Preise als an Land!“
Sie nannte eine Summe. Da meinte er:
„Ich sehe hinter deinem schwarzen Tuch eine schöne Frau, für dich mache ich es billiger!“
Mir fuhr ein Schreck durch die Glieder, als ich bemerkte, dass meine Mutter ihr Kopftuch tiefer über die Augen zog. Trotzdem versuchte sie uns zuzulächeln. Borak schien zu schlafen. Oh, meinem ältesten Brüder war wohl alles egal? Sevgi lehnte müde an Mutters Knie. Der Kapitän sprach andere Leute an. Wir konnten uns beruhigen. Gerade wollte ich mich in eine Ecke quetschen, da fielen die ersten Schüsse. Ein Licht flammte auf. „Küstenwache“ las ich an der Bordwand. Wir waren doch eben erst losgefahren…

Die Küstenwache nahm uns mit. Zusammengequetscht saßen wir da, mit vielen anderen Menschen. Sie brachten uns in einen Hafen. „Hafen Athen“ stand auf einem großen Schild. Wir legten an. Ein Bus brachte uns in ein Lager. Ein Flüchtlingslager! Ein junger Mann führte uns durch etliche Zelte. Überall hockten Menschen. Der junge Mann zeigte uns ein Zelt und zwei Betten. Eins für  Sevgi  und Mutter und eins für Borak und mich. „Hier eure Betten. Morgen bringt ein Flugzeug euch nach Deutschland. Die Bundeskanzlerin hat beschlossen, überfüllten Lagern zu helfen. Ihr werdet dort gut untergebracht sein!“, sagte er auf Englisch. Unsere Mutter nickte. Wir hatten nichts verstanden. Aber ich fragte nicht weiter. Tatsächlich holte uns am nächsten Tag ein Flugzeug ab. Wir stiegen ein und ich fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Erst die Ansage zur Landung in Berlin weckte mich. Ich hatte den ganzen Flug lang geschlafen. Zum Glück waren Flughafen und Bahnhof nicht weit von- einander entfernt. Wir gingen hin und erreichten gerade noch rechtzeitig unseren Zug. Die Fahrt dauerte nur eine Viertelstunde. Ich sah den Fernsehturm. Er war größer als in meinen Vorstellungen. Wir stiegen aus. Das Flüchtlingslager lag etwas am Ende von Berlin. Das Haus war groß und hellblau – ganz anders, als die Häuser in Syrien, die jetzt nur noch in Schutt und Asche lagen. Eine Dame führte uns, und noch ein paar andere Flüchtlinge, in das Haus. Sie zeigte jeder Familie ihre Zimmer. Unseres war eigentlich ganz groß. Es beinhaltete vier Betten. Für jeden von uns eines. Ich setzte mich auf meines. „Geht doch raus und lernt ein paar Leute kennen, aber ich lege mich eine Weile schlafen!“, sagte Mutter.  Borak und ich gingen, mit Sevgi an den Händen, hinaus. Ein kleiner Junge rannte auf uns zu. Wir waren erstaunt, als er auf Arabisch anfing, mit uns zu plaudern. Wir unterhielten uns prächtig. Ich spürte, dass sich daraus eine herrliche Freundschaft entwickeln würde. Der Wind strich durch mein Haar. Ich, Tanik, der sich auf unserer gemeinsamen Flucht, trotz der Nähe seiner Familie, allein gefühlt hatte, fühlte sich auf einmal frei! Syrien lag nun weit hinter uns und der Krieg auch. Ich spürte, dass ich hier glücklich werden würde…

Nur einen Monat später hatte meine Mutter unser Asylrecht beantragt und bekommen. Der kleine Junge, der sich als Mahad vorstellte, war unser bester Freund geworden. Ich ging inzwischen auch zur Schule. Sie war anstrengend, machte jedoch Spaß. Ich war einfach nur glücklich…